The Green New Mosh
Festival-Hedonismus in der Klimakrise

Special

Wir kennen das: apokalyptische Bilder am Morgen nach dem letzten Festivaltag. Gesichter, die nach Schlaf und Alkoholabstinenz schreien; Wäsche, die auf Sondermülldeponien gehört; Schuhe, die von Staub und Schlamm versteinert, kommende Erdzeitalter überdauern und ein Zelt, das … Moment. Welches Zelt? Das, was da hinten zwischen Küchenzeilen, Omas altem Sofa und Mount Müll beinahe flehend sein Zeltgestänge in den Himmel reckt?

Genau diese apokalyptischen Bilder à la Mad Max sind es, die Festivalveranstaltern alljährlich die Schweißperlen auf die Stirn treiben, das Geld vom Konto flattern lässt und Karmapunkte vom Leben abzieht.

Das Müllproblem, das von dem einen oder anderen rücksichtslosen Gast ausgeht, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Wenn man mitten in der Walachei für wenige Tage ein kleines Dorf, ganze Klein- oder Mittelstädte entstehen lässt, inklusive Infrastruktur mit Verpflegung, Energie-, Sanitär- und Trinkwasserversorgung, tickt der Emissions-Zähler im Speedmodus nach oben.

Impression – Summer Breeze Open Air 2016

Schall-Emissionen statt Treibhausgas

Wie hoch genau, das hat die University of Oxford für die Britische Musik- und Entertainmentindustrie errechnet. Unter anderem für die Distribution, die Aufführungen und die Produktion, kam man im Jahr 2007 auf satte 540.000 Tonnen CO2. Zum Vergleich: Die gleichen Emissionen erzeugt im gleichen Zeitraum eine 54.000 Einwohner zählende Stadt oder 180.000 Autos. Ernüchternd ist da der Gedanke, dass im deutschsprachigen, festivalreichen Raum dieser Wert weitaus höher ausfällt.

Welche Rolle die Kulturindustrie im Kampf gegen den Klimawandel einnimmt, damit beschäftigt sich unter anderem die Green Music Initiative. Diese unterstützt Veranstalter bei dem Vorhaben, ihren Einfluss auf das Klima so gering wie möglich zu halten. Gleiches Vorhaben verfolgt A greener Festival. Seit 2007 verleiht die NGO einen Award an Festivals, die sich durch besondere Bemühungen hervortun.

Reise, Reise, jeder tut’s auf seine Weise

Doch egal was ein Festivalteam für Bemühungen unternimmt, um die Nachhaltigkeit vor Ort zu erhöhen: Alleine die Anfahrt der vorübergehenden Festivalbewohner schlägt mit der Hälfte der entstehenden Treibhausgas-Emissionen zu Buche. Kein Wunder, dass Veranstalter zunehmend Anreize für die Anreise mit dem öffentlichen Personennah- und fernverkehr schaffen, von der Vermeidung von Staus ganz zu schweigen (Wer hatte nicht schon das Vergnügen?).

Manche Festivals gehen über die reine Vereinfachung der Anreise durch Shuttle-Verbindungen sogar hinaus: Die Gründer des Metal Train zelebrieren bereits seit vielen Jahren die Zugreise im Kollektiv zum Wacken Open Air, samt DJ und Versorgung mit bierigem Nass. Auch andere Festivals, wie zum Beispiel das Summer Breeze, arbeiten mit externen Anbietern für Event-Busreisen zusammen.

Impression – Rockharz 2017

Doch am kreativsten ist mancher Festivalbesucher selbst: Der Harz ist schön, das Rockharz laut – warum nicht beides mit einer Wanderung kombinieren? So gründete Stefan zum Festivaljubiläum kurzerhand eine Wandergruppe, die seit dem jedes Jahr über den Harzer Hexenstieg entspannt dem Open Air entgegen stiefelt. Anschließen kann sich jeder, dem eine normale Anreise zu unspektakulär ist und die natürliche Ruhe vor dem Metal-Sturm sucht.

Die parallele Entwicklung der Versorgungssituation vor Ort mit preisgünstigen Pop-Up-Supermärkten, Mietzelten und Co. macht das Ankarren von palettenweise Verpflegung und gewichtigem Zelt glücklicherweise zunehmend obsolet – und wesentlich entspannter. Keine Staus, kein Einkaufs- und Packstress. Ankommen und fertig.

Dennoch: der Großteil der Besucher bleibt beim Auto. Vollbesetzt ist an der motorisierten Anreise auch nichts auszusetzen. Die Metaldays versuchen deswegen ab 2020 Anreize zu schaffen, indem Autos, die mit vier Personen vollbesetzt sind, kostenlos parken können.

Impression – Summer Breeze Open Air 2017

Verpflegung – Futtern bis der Amazonas brennt?

Darfs eine Pommes für 5 Euro sein? Manches Festival ist berüchtigt in der Preisentwicklung für feste und flüssige Nahrung. Ob man also jeden Tag seine drei Mahlzeiten samt Flüssigbrot auf dem Festivalgelände einnehmen möchte, ist also Geschmackssache des Geldbeutels. Bereits erwähnt wurden die vor allem auf größeren Festivals eingeführten Mini-Supermärkte, die auch das Überleben der Sparfüchse sichern.

Was allerdings den Geschmack des Dargebotenen angeht, so ist die Tendenz auch hier positiv zu werten. Vor einigen Jahren hat man schließlich nicht nur das Niveau am Festivaleingang abgegeben, sondern auch jedes Vorhaben einer ausgewogenen Ernährung. Auch heute noch kann man seinem Magen auf Wunsch einen Fettanstrich mit Currywurst-Pommes verpassen, aber auch hier ist das umweltbewusste Angebot auf dem Vormarsch.

Impressionen – M’era Luna 2018

Vegetarisch und vegan ist auch auf Metalfestivals längst keine Randerscheinung mehr. Ja, auch Fleischesser honorieren die Koch- und Schichtkunst des veganen Burgerbraters oder gönnen sich ein veganes Curry, das eine angenehme Abwechslung zur triefenden Salamipizza ist. Die gibt es natürlich auch weiterhin (Man kennt das: Acht Bier und eine fettig-salzige Pizza ist das Paradies), doch auch hier kann sich jeder Festivalbesucher zwischen Metanpupser-Rippchen oder ebenso geschmackvollem aber emissionsarmem Falafel entscheiden.

Das Full Force geht mit seinem Foodsharing-Angebot noch einen Schritt weiter, auch werden besonders nachhaltige Foodstände gekennzeichnet, um den bewussten Konsum zu vereinfachen.
Die Metaldays in Slowenien – auch bei vielen deutschen Fans als einwöchiger Festival-Urlaub beliebt – haben einen besonders ehrgeizigen Plan. Neben einem Haufen anderer Projekte im Sinne der Nachhaltigkeit, soll das (noch?) in einem Nationalpark gelegene Open Air bis 2023 100% pflanzenbasiert sein. Mit anderen Worten, das jetzt schon üppige vegane Angebot wird die Regel. Und wer schon einmal da war, weiß: Da wird selbst einem (Achtung, schlechter Wortwitz) eingefleischten Karnivoren nichts fehlen.

Unterkunft – Schaffe, schaffe Häusle abbaue

Dass Festivals stolz wie Bolle Fotos von sauber hinterlassenen Campgrounds im Netz posten, zeugt davon, dass dieser Zustand nicht Normalität ist. Selbst wer Müll-Messitum auf Festivals ablehnt: Ein Windhauch und schon liegt die leere Chipstüte drei Zelte weiter und keiner fühlt sich mehr zuständig.

Für Besucher, die ihre Zuständigkeit nicht ausschließlich an persönlichem Gut festmachen, gibt es mittlerweile auf so gut wie allen größeren Festivals das sogenannte Green Camping. Eigens reservierte Areale, auf denen Menschen mit Rücksicht auf Mitmenschen und Mitwelt zusammenkommen und lieber ohne Bier- und Raviolidosen-Diving feiern und ausspannen.

Für Wanderer, Zugfahrer, Zeltaufbau-Legastheniker oder Faule, zimmern die Mädels und Jungs von mein-zelt-steht-schon.de schon seit 2006 kleine Zeltdörfer auf die Campgrounds. Diese werden nicht nur am Ende wieder abgebaut, sondern auch instand gehalten und immer wieder verwendet.

Die Erfinder des Kartent fahren eine andere Strategie. Auch hier soll das Zurücklassen von tonnenweise Zelt“müll“ verhindert werden. Die Zelte aus Pappe werden jedoch nur einmal verwendet: Recycle statt Reuse ist die Devise.

Öko-Stromgitarrenmusik? Leise ist anders.

Mal ehrlich. Es gibt doch eigentlich nichts trveres, als Pagan oder Black Metal, der heidnische Dämonen beschwört und von dem jeder Saitenanschlag mit einer (erneuerbaren) Energiequelle der Natur befeuert wird?

Myrkur auf den MetalDays 2018

Was den Ökostrom-Anteil auf Festivalbühnen angeht, ist definitiv noch Luft nach oben. Leicht positiver sieht die individuelle Stromversorgung der Besucher aus. Die Bestrebungen einiger Veranstalter wachsen, Benzingeneratoren von den Campgrounds zu verbannen. Diese miefen, sind Laut (leider nicht im musikalischen Sinne) und unter Umständen sogar gefährlich, wenn man dahinter betrunken in seinem Zelt einpennt – und vielleicht nie wieder aufwacht.

Viele Festivals bieten mittlerweile Aufladestationen an, doch auch viele Besucher werden selbst kreativ: Solaranlage auf dem Zeltdach? Ist doch voll normal.

Trves Hanfleibchen statt Pestizid-Lappen

Für viele gehört das standesgemäße Festivalleibchen und Bandmerch zum Alltag, wie der allmorgendliche Pott Kaffee (ob Bio-Fairtrade oder nicht). Während Otto-Normal-Kleidung schon lange und mit breitem Angebot in Bioqualität verfügbar ist, liest man noch auf fast allen Etiketten unserer Lieblingsbands „made in interessiert-dich-doch-n-Scheißdreck aus 100% fuck-the-earth-pestizid-Baumwolle“.

Fakt: Das exklusive Tourshirt mit dem geilen Backprint muss man einfach haben, koste es den Planeten und die NäherInnen in Bangladesch was es wolle. Dabei kostet die Bio-Klamotte in der Produktion nur wenig mehr. Auch wenn es für den oder die eine oder andere hart klingt: Ein Bier weniger und der extra investierte Öko-Groschen ist wieder drin.

Darüber hinaus haben sich bereits Firmen etabliert, die für Festivals das rundum-Sorglos-Paket schnüren, inklusive Eco-Karma-Points. Stellt sich die Frage, warum Diese also insbesondere auf Metalfestivals noch Mangelware sind.

Impression – Summer Breeze Open Air 2016

Oder klingt Bio-Baumwolle vielleicht nicht Metal genug? Das war vielleicht auch der Gedanke der Cottonkillers. Oder aber schlicht und einfach die Idee aus der multifunktionalen Pflanze namens Hanf, wirklich robustes und nachhaltiges Bandmerch zu machen.

Leider scheiterte die Crowdfunding-Kampagne im Jahr 2018. Hoffen wir, dass dieses Vorhaben eines Tages wieder aufgegriffen wird und Metalheads im Kollektiv der Geschichte zum Erfolg verhelfen. Denn mal ehrlich: Wer hat sich nicht schon über Shirts aufgeregt, die nach nur drei Wäschen ihr wahres, Primark‘sches Wegschmeiß-Wesen offenbaren?

Nur Sterben ist wirklich Öko

Na gut. Festivals sind und bleiben, egal mit welchen Bestrebungen, umweltschädlicher als zu Hause zu bleiben und ein Buch zu lesen. Oder zu sterben. Eine Tatsache, die besonders die nihilistischen Black Metal-Misanthropen unter uns feiern dürften. Aber selbst die haben hin und wieder das Bedürfnis aus dem Haus zu gehen.

Denn der Mensch, der gesellschaftsbedürftige Trockennasenaffe, sucht den Zusammenschluss mit Gleichgesinnten und ist und bleibt Hedonist. Stets auf der Suche nach Sinnesreizen und Genuss – in unserem Fall nach dem Festivalerlebnis mit anderen Verrückten, Freunden oder verrückten Freunden und selbstverständlich unseren Lieblingskapellen.

Aber auch metal‘scher Hedonismus kommt ohne Müllberge, CO2-Schleudern und Rücksichtslosigkeit aus. Denn ohne diesen blassblauen Planeten im Seitenarm einer Galaxie, mit einem für unsere Spezies (und die Durchführung von Festivals) möglichst auch weiterhin ausgewogenem Klima, ohne Hurricanes, tödliche Hitzewellen und wasserwandartigen Regenfällen, gäbe es keine Menschen. Und keinen Metal. Und das ist nun wirklich eine schwer auszuhaltende Vorstellung.

Also, auf zum green new Mosh.

Impression – Summer Breeze Open Air 2018

30.08.2019

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