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Time to get big again!

Interview

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Zwecks Interview mit Richard Patrick von FILTER zu telefonieren, ist immer eine spaßige Angelegenheit, weil man oftmals doppelt soviel bekommt als man eigentlich erwartet hat. Und wenn man erst mal von seinem Redefluß mitgerissen wird, landet man am Ende bei ganz anderen Themen. Vor ein paar Tagen rief ich bei ihm an, und erwischte ihn offenbar mitten beim Essen, was er mir fröhlich mampfend auch bestätigte. Ich hatte derweil gerade mal die ersten Happen des neuen FILTER-Albums „The Sun Comes Out Tonight“ verdaut.

Normalerweise braucht es ja immer einige Zeit, bevor ein Album zu wirken beginnt, bevor es sich nach ein paar Durchläufen komplett öffnet. Vor dem Interview hatte ich gerade mal einen knappen Tag Zeit, doch immerhin handelte es sich hier um ein Album von FILTER – wenn man wie ich in der glücklichen Lage ist, bisher alle Vorgänger in sein Herz geschlossen zu haben, dann gelingt der Einstieg in ein neues Werk fast schon automatisch. Genauso wie damals bei „The Trouble With Angels“, das Meisterwerk mit dem deutlich wurde, dass sich etwas verändert hatte. Der wütende Junge, der bei NINE INCH NAILS ausgestiegen war, der mit „Short Bus“ zu Platin-Weihen emporraste und ein paar Jahre später einen tiefen Absturz hatte. Als Richard Patrick damals auf die Tour zu „The Amalgamut“ verzichtete und sich selbst in die Reha einwies, kostete das ihn und seine Band vermutlich Millionen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem Wandel zum Besseren, den Patrick seitdem vollzogen hat – ganz ohne Drogen, ganz ohne Alkohol. „The Trouble With Angels“, das war das Album eines geläuterten, gereiften, erwachsenen Mannes, der seinen inneren Frieden gefunden und seine Freude am Leben wiederentdeckt hatte. Das konnte man in jeder einzelnen Minute hören, und gerade deshalb wird es Fans, die das genauso empfunden haben, besonders freuen zu hören, dass FILTER mit ihrem neuen Album noch ein paar Schritte weitergegangen sind.

Eine Zeit lang kursierte Album Nr. 6 unter dem Namen „Gurney And The Burning Books“ – nur ein Arbeitstitel, wie mir Richard erzählt. Aber dank Wikipedia & Co. überleben solche Gerüchte länger, als einem lieb ist. Jetzt, wo sie endgültig zerstreut sind, blendet einen das Cover wie eine grelle Taschenlampe in einem finsteren Raum. Die Sonne taucht auf, aber nicht wie an einem schönen Sommertag, eher wie in der Dunkelheit der Nacht. Richard erinnert sich dabei an seine Jugend: „Vieles auf dem Album ist durch diese Zeit geprägt, als ich in Cleveland wohnte, wo alles ziemlich düster und nach Industrielandschaft aussah. Wir hatten keine Kohle, wir hatten gar nichts.“ Ich erinnere mich an die Textzeilen des Vorgängeralbums, als Richard über erste Drogenerfahrungen sang. „Wir sind auf Brücken herumgeklettert, geskatet, sind auf abgelegenen Straßen rumgefahren, wo man nicht von der Polizei aufgegriffen wird.“ Wenn die Nächte zum Tag werden. „Wir haben uns einfach nur rumgetrieben, Bier getrunken, wussten nichts mit uns anzufangen. Wir hassten die Gelegenheitsjobs, mit denen wir über die Runden kommen mussten. Der amerikanische Traum, das war ein Hirngespinst für uns. Aber in solchen Nächten fühlten wir uns trotzdem wie die Größten.“ Als er später mit NINE INCH NAILS unterwegs war, hat er versucht, die alten Kontakte zu halten, um nicht abzuheben, ebenso, als er dann mit „Short Bus“ endgültig zum erfolgreichen Musiker wurde. „Wo ich ging und stand, wurde ich erkannt, aber trotzdem habe ich mir die Unschuld und Normalität meiner Jugend zu erhalten versucht.“

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Das neue Album ist nicht einfach nur eine Rückkehr in diese Zeit. Die düsteren Töne haben ihre Ursache auch in naheliegenden Ereignissen, in den Dämonen, die man tagtäglich bekämpfen muss. Es ist eine Reise voller Kontraste und Widersprüche, die das gesamte Spektrum der Emotionen abdeckt. Mit Richard als Autoren wird man nie mit irgendwelchen belanglosen Plastikbotschaften belästigt, die einem aus Radio und Fernsehen entgegendröhnen. Bei Richard wird es oft persönlich: „Ich bin von einer Person, die mir sehr nahe stand, auf ungeheure Weise verletzt und betrogen worden… aber ich kann eigentlich nicht darüber sprechen. Die einzige Möglichkeit damit fertigzuwerden, ist durch die Musik, durch meine Texte, von denen ich nur hoffen kann, dass sie niemand wirklich versteht außer die Person, die es betrifft.“ In der Vergangenheit hätte Richard vermutlich etwas ziemlich hasserfülltes zusammengebraut – aber da wo Dunkelheit ist, ist auch Licht. „Jeder kennt diese absolut finsteren Momente in seinem Leben, die doch immer auch etwas ganz Wundervolles in sich tragen. Ich habe zwei Kinder, die das größte Geschenk für mich waren, was ich mir je hätte erträumen können. Sie haben mich zu einem besseren Menschen werden lassen. Sie wurden nicht gefragt, ob sie in diese Welt kommen möchten – und es ist meine Verantwortung, sich um diese zwei unschuldigen Kids zu kümmern. Sie waren die größte Überraschung, die mein Leben für mich bereithielt!“

Damit trifft er mein Stichwort, denn Überraschung ist wohl die treffendste, kürzeste Beschreibung, die man „The Sun Comes Out Tonight“ geben kann. Kein einziger Fan, kein einziger Kenner wird nicht überrascht werden. Und „Surprise“ ist der Song, der das am besten verkörpert, der den Hörer wie einen Blitz trifft. Wurde man noch von „We Hate It When You Get What You Want“ und „What Do You Say“ an die Wand gerifft, so verschwindet jegliche Härte und heraus kommt ein fast schon elektro-poppiger Song mit akustischer Färbung, gekrönt durch Richards einfühlsamen Gesang. Man fühlt sich schnell an „Take A Picture“ erinnert, doch es steckt mehr dahinter. Mit „Surprise“ haben FILTER möglicherweise eine ganz neue Seite an sich entdeckt. Eine, die mal wieder Fans der ersten Garde gehörig sauer aufstoßen wird.

Als ich Richard damals zum Vorgänger befragte, erklärte er mir seine Perspektive auf die neue Generation von Musikhörern, die vor allem Singles kaufen und wesentlich offener und aufgeschlossener mit Musik umgehen. Warum sollte sich eine Band wie FILTER auf ein bestimmtes Schema festnageln lassen, wenn die Welt doch so viel zu bieten hat? Musikfans sind keine Schafe, das weiß auch Richard. „Bei FILTER geht es längst nicht nur um Härte, sondern auch all die anderen Seiten. Ich brauche hin und wieder auch etwas Sonnenschein und Fröhlichkeit, denn wenn es die ganze Zeit bloß so düster und trübe bleibt, wäre das einfach nicht ehrlich. Ich kann mir die Seele aus dem Leib brüllen, möchte aber auch die angenehmen, ruhigen Seiten des Lebens nicht auslassen. Ich möchte mich nicht die ganze Zeit meiner Wut hingeben – das fühlt sich einfach falsch an.“

Wut kann die Kreativität beschleunigen, sorgt allerdings oft genug auch für ihre schnelle Korrosion. Auf Katharsis folgt Desillusionierung. Viele Musiker werden älter, weiser oder Väter, so wie Richard – und manche Fans wollen es nicht wahrhaben. Aber Veränderung ist unausweichlich. Veränderung bedeutet keine Veränderung zum Schlechten, und wenn man sich FILTERs Diskographie genau anschaut, muss man zugeben, dass diese sanften Töne, für die sie seit Jahren regelmäßig kritisiert werden, schon von Anfang an dazugehört haben. Auch das heißgeliebte „Short Bus“ hat diese sensiblen Momente. Verglichen mit dem neuen Album liegen natürlich Welten zwischen beiden Werken. Aber dennoch folgt „The Sun Comes Out Tonight“ der gleichen Vision, der gleichen Tradition, denn Richard hat seinen Pfad nie verlassen.

„Ich liebe es heavy, ich liebe die aggressiven Songs, liebe es, solche Riffs zu schreiben. Aber so, wie ich z.B. auf MINISTRY oder SKINNY PUPPY stehe, mag ich eben auch Neil Diamond und Patsy Cline, ob du es nun glaubst oder nicht. Deshalb gehören zur Härte auch immer Momente der Leichtigkeit.“ Und bevor ich dazu komme, spricht Richard das Offensichtliche aus: „Die nächste Single soll „Surprise“ werden, gefolgt von „First You Break It“. Wenn man das Pop-Monopol im Radio brechen will, dann in dem man es mit den eigenen Waffen schlägt. Und diese Songs sind geradezu wie gemacht dafür.“ Damit behält er hoffentlich Recht, denn gerade in Deutschland sind härtere Gitarrenklänge nahezu verpönt. Die erste Single „What Do You Say“, die mit ihrer markanten Bassmelodie geradezu die Seele von FILTER wiederspiegelt, ist überwältigend, aber in der hiesigen Radiolandschaft (zumindest bei den großen Sendern) undenkbar. Dann lieber so ein mitreißendes Stück wie „Surprise“. „Take A Picture“ war damals auch nicht als Superhit vorgesehen, aber entwickelte dann eine ungeheure Eigendynamik. Dieses Potential steckt noch heute in der Musik von FILTER.

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Aber um gleich die Radiobrille abzusetzen: FILTER sind nachwievor keine Band, der es um Anbiederung an Massengeschmäcker geht. Als FILTER-Fan darf man sich allerdings angebiedert fühlen, denn da bietet das neue Album die Vollbedienung. „The Sun Comes Out Tonight“ ist eine Melange aus vertrauten Elementen aus jeder Phase von FILTER, von den letzten Werken bis zu den ganz frühen Tagen. Und ganz nebenbei, nach 20 Jahren FILTER, kann man immer noch ganz neue Töne vernehmen, wie im beeindruckenden „It’s My Time“. Der packende, melancholische Song prästentiert uns Richard ganz allein mit einem Piano. „Ich bin wirklich stolz auf diesen Song, so stolz wie ich vermutlich noch nie in meiner Zeit als Songschreiber war. Ursprünglich sind wir gefragt worden, ob wir dieses Stück für eine TV-Serie schreiben konnten, doch den Machern war er dann doch eine Spur zu intensiv. Es ging in der Show um den Tod eines Hauptcharakters – Tod durch Hinrichtung. Es geht um die Todesstrafe, um die Imperfektion unseres Rechtssystems, und letztlich auch um unschuldig zum Tode Verurteilte.“

Richard erzählt mir, dass er selbst schon einige Male seiner Jury-Pflicht nachgekommen ist, weil es die beste Gelegenheit ist, um das Rechtssystem zu prüfen, um zu sehen, ob es tatsächlich funktioniert. Er hat beide Seiten kennengelernt, hat Täter gesehen, die den Gerichtssaal als freie Menschen verlassen durften, weil Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Arbeit nicht gewissenhaft gemacht hatten. „Und am Ende bist du dann bei der Todesstrafe, die unumkehrbar ist. Was fühlt jemand, der dort angelangt ist, der in seiner Zelle auf seine Hinrichtung wartet? Ich wollte das mit diesem Stück ausdrücken. Und wir können es auch nicht erwarten, diesen Song live zu spielen – wir holen uns einfach ein Keyboard auf die Bühne, da mein Bassist und Gitarrist zufälligerweise auch verdammt gut darauf spielen können.“

Ob FILTER so einen Song tatsächlich live spielen, müssen wir wohl abwarten, Tatsache ist aber, dass das neue Material bisher verdammt gut ankommt. Begeistert erzählt mir Richard, das die Fans bereits die Texte mitsangen, als die entsprechenden Lyricvideos gerade mal ein paar Tage alt waren. Fans, die ihm auch mal einen Aussetzer verzeihen, weil Richard statt Texte zu lernen lieber mit seinen Kids gespielt hat. Die Live-Erprobung ist der Band wichtiger als lange Sessions im Proberaum. „Es ist ein großartiges Erlebnis, egal wie erschöpfend die Konzerte auch sein mögen, vor allem, wenn dich das Publikum so herzlich aufnimmt. Lieber spielen wir dann noch eine halbe Stunde länger, als uns vorher konkret Gedanken zu machen, welche Songs wir nun tatsächlich im Set haben wollen, und welche nicht.“

Wenn es um Livekonzerte und neue Musik geht, führt kein Weg an Jonny Radtke vorbei, dem KILL HANNAH-Gitarristen, der schon seit einiger Zeit zu FILTER gehört. Wenn man Richard zuhört wird es offensichtlich, dass Jonny eine ähnlich prägende Rolle bei der Entstehung des Albums gespielt hat, wie Bob Marlette damals für „The Trouble With Angels“. „Er ist einer der besten Gitarristen, die ich kenne, beherrscht einfach alles bis in die Fingerspitzen. Er ist mit FILTER, NINE INCH NAILS, TOOLS und all diesen Bands aufgewachsen, weiß, wo wir stehen. Er fühlt den Vibe, den wir brauchen. Jonny ist zehn Jahre jünger als ich, und er erinnert mich an all die coolen Sachen, die wir bisher gemacht haben.“ Man hört Jonnys Einfluss über das gesamte Album, von kleinen Details bis zu prägnanten Riffs, so auch beim Stück „The Hand That’s Dealt“, welches es leider nicht auf das reguläre Album geschafft hat. „Das war der erste Song, den Jonny und ich gemeinsam in seinem Haus geschrieben haben, und es war wie ein kleines Aha-Erlebnis. Da saß jemand vor mir, der genau so tickte wie ich. Ursprünglich war der Song für einen Film gedacht, aus dem dann leider nichts geworden ist. Aber durch die rechtliche Situation hing das Stück nun in der Schwebe – da hatten wir nun so einen großartigen Song, und keiner würde ihn hören können.“ Glücklicherweise wurde er dann doch noch von seinen Fesseln befreit, wenn man auch nur in Form eines digitalen Bonus in seinen Genuß kommt.

Was Jonny und Richard für FILTER geschaffen haben, steht im Zeichen von Vielseitigkeit und Originalität. „Wir könnten ohne Probleme ein zweites „Short Bus“ fabrizieren, aber erstens müsste man dafür ja auch überzeugende Songs schreiben, und zweitens wäre das so, als ob man das Album einfach nur zusammenbaut, ohne dass es sich richtig anfühlt. Nach zwanzig Jahren bin ich einfach als Sänger und Songwriter gewachsen, kann mehr als nur ängstlich ins Mikrofon zu stammeln. Ich möchte nicht bis ans Ende meiner Tage immer nur das gleiche machen.“ Dieser Wille zur Veränderung findet auch im Covermotiv und der Titelschriftart seinen Ausdruck. Studio 54 Ästhetik trifft auf die FILTER-Marke.

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Mit „The Sun Comes Out Tonight“ kehren FILTER nach vielen Jahren des Indie-Daseins wieder zu einem großen Label zurück. Richard ist voll des Lobes über Wind-Up Records: „Gregg Wattenberg kam auf uns zu sprechen und meinte, dass er sich eine ganze Menge mit FILTER vorstellen kann. Es ist toll, wenn man bei einem Label ist, was sich um wirklich alles kümmert, wo die Leute an jedes Detail denken. Diese Professionalität ist genau das, was FILTER brauchen.“ Richard denkt dabei auch an das letzte Werk, was leider nicht die volle Unterstützung erfahren hat, die es verdient gehabt hätte. Nun stehen vermutlich bis zu fünf Singles in Aussicht, dazu vielleicht ein, zwei Videos. Und auch die unterschiedlichen Ausgaben des Albums können sich sehen lassen, vor allem das goldene Vinyl.

Man merkt Richard die Aufregung und Begeisterung an. Viel hat sich verändert, „The Trouble With Angels“ war der Anfang, nun folgt der zweite Akt mit einer Band, die schon lange nicht mehr in einer so guten Verfassung war. Jetzt, wo alles sich zu einem großen Ganzen zusammenzufügen scheint, gilt für Richard nur noch eins: „Time to get big again.“ Wir gönnen es FILTER von Herzen.

Galerie mit 24 Bildern: Filter - Filter - European Tour 2013

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01.06.2013

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