Lacuna Coil
Interview mit Gitarrist Cristiano Migliore zu "Shallow Life"

Interview

Mit „Shallow Life“, dem neuen Album der ehemaligen Gothic Rocker, wagten die Italiener weitere Experimente. Wie beim ersten Album versuchten die Mitglieder die Songs diesmal wieder durch Jamsessions zu kreieren, nachdem die Vorgängeralben mehr oder weniger am Computer entstanden sind. Die Ideen der Bandmitglieder wurden gesammelt im Proberaum zu neuen Songs verarbeitet. Insgesamt verbrachte die Band sechs Monate nur für diesen Prozess. Gitarrist Cristiano Migliore sprach mit mir nicht nur über den Entstehungsprozess des Albums, sondern auch darüber, warum ihm die neuen Songs ganz besonders am Herzen liegen…

Lacuna Coil

Hey Chris! Das neue Album trägt den Titel „Shallow Life“. Das klingt ganz schön pessimistisch, wenn du mich fragst, denn ich verbinde mit der Aussage dahinter Oberflächlichkeit oder generell etwas nutzloses. Was ging in euch vor, dem Album einen solchen Titel zu geben?

Mit diesem Titel spielen wir auf das Leben an, auf das, was unser heutiges Leben bestimmt und viele Leute offensichtlich glücklich macht: Geld, Styling, Reality-Shows und solche Dinge. Das Leben ist sehr oberflächlich geworden und von materiellen Dingen bestimmt. Werte wie zum Beispiel Familie, Freundschaft und Hilfsbereitschaft verlieren an Bedeutung. Dabei ist es wichtig zu wissen, für was du dich einsetzen solltest. Jeder hat Rechte, aber auch Pflichten. Und ich denke jeder sollte für sich eine Balance zwischen der Glamour- und Werbewelt und dem unmittelbar stattfindenden Leben finden. Und genau das hat uns zu den neuen Songs inspiriert.

Habt ihr eigentlich versucht, die neuen Songs in gewisser Weise aggressiver klingen zu lassen, als auf dem letzten Album? Denn der Titel erweckt ja durchaus diesen Eindruck…

Nein, wir haben nicht versucht oder von vornherein beabsichtigt, musikalisch aggressiver zu werden, obwohl es auf dem neuen Album natürlich ein oder zwei Songs gibt, die schon ziemlich heftig sind, während andere Songs viel melodischer klingen, als alles was wir bisher gemacht haben. Ich möchte behaupten, dass „Shallow Life“ eine unheimlich große Bandbreite an unterschiedlichen Stimmungen verarbeitet, und gerade deshalb sehr vielfältig klingt…

…und gerade deshalb, weil „Shallow Life“ so anders als „Karmacode“ und „Comalies“ klingt, wäre es interessant zu wissen, welche anderen Bands oder Künstler euch evtl. beeinflusst haben…

Die Songs auf diesem Album wurden von vielen Aspekten und Umständen unseres Lebens beeinflusst, zum Beispiel durch unsere Tourneen, immer wieder neue Leute kennen zu lernen und mit vielen unterschiedlichen Bands zu spielen. Das alles hat unser Songwriting beeinflusst, gar keine Frage. Außerdem haben wir zum ersten Mal eine Auszeit genommen, und haben den gewohnten Zwei-Jahres-Rhythmus zwischen zwei Alben damit unterbrochen. Diese längere Pause zwischen „Karmacode“ und „Shallow Life“ hat uns sehr gut getan, und so konnten wir uns auch wieder verstärkt auf die Musik selbst konzentrieren. Das hat sich dann auch in unserem Songwriting bemerkbar gemacht, aber auch die Tatsache, dass wir uns diesmal keine Grenzen gesetzt hatten, alles war erlaubt. Jeder, der eine Idee zu einem Song hatte, durfte sie vortragen und wir haben dann gemeinsam daran gearbeitet und ausprobiert, wie diese Idee klingt und ob wir darauf aufbauen können. Wir standen diesmal nicht unter Druck und haben viel experimentiert, schließlich wollten wir definitiv kein zweites „Karmacode“, das wir innerhalb von nur wenigen Monaten nach einer ausgedehnten Tour geschrieben und aufgenommen haben, und das von vielen Leute als das Album bezeichnet wird, das sehr US-amerikanisch klingt. Diesmal haben wir uns hingesetzt und verschiedene Sachen ausprobiert, bis wir letztendlich viele hervorragende Ansätze hatten, auf die wir dann aufgebaut haben und so auch mit unterschiedlichen Stilen ganz unterschiedliche Stimmungen erzeugt haben.

Du hast gerade die unterschiedlichen Stile und Stimmungen angesprochen, die auf dem neuen Album zu hören sind. Wenn man „Shallow Life“ zum ersten Mal hört, klingt das Album defnitiv „voller“ als „Karmacode“, und durchaus „metallisch“ aber insgesamt doch eher alternativ. Kann man LACUNA COIL trotzdem noch als Gothic-Rock-Band bezeichnen?

Es ist sehr schwierig, LACUNA COIL, so wie wir heute klingen, irgendwo einzuordnen oder zu kategorisieren, denn wie ich schon sagte, haben wir uns diesmal nicht nur auf eine Art Musik zu machen beschränkt. Als wir anfingen Musik zu machen, konnte man uns eindeutig dem Gothic-Genre zuordnen, da wir selbst auch große Fans von Bands wie PARADISE LOST oder TYPE O NEGAIVE waren, und entsprechend eigene Songs in diesem Bereich geschrieben haben. Aber wir haben uns weiterentwickelt, haben viele neue Sachen für uns selbst entdeckt und sind im Grunde genommen ganz andere Menschen als damals: Heute hören wir von Metal über Pop bis Klassik so ziemlich alles was uns gefällt, und genau das kannst du auch auf „Shalow Life“ heraushören. Die Einflüsse sind mannigfaltig. Ich denke das, was LACUNA COIL heute an Musik machen, darf man ohne schlechtes Gewissen als Rock bezeichnen. Natürlich wirst du noch irgendwo einzelne Gothic-Elemente von unserer Anfangszeit heraushören, aber nicht mehr so dominierend, wie noch vor Jahren.

Wie würdest du diesen Wandlungsprozess von Album zu Album in Beziehung zu den von euch unterschiedlichen Stilarten beschreiben?

(überlegt) „In A Reverie“ ist ein Gothic-Metal-Album und das einzige, dem eine Änderung im Line-Up vorausging, der einzige Besetzungswechsel der Bandkarriere übrigens. Wir waren sehr von Bands wie PARADISE LOST und TYPE O NEGATIVE beeinflusst. Auf „Unleashed Memories“ haben wir zum ersten Mal mit Layern experimentiert und verstärkt mit Keyboards und Strings gearbeitet. Auch hier hört man die ganzen Gothic-Elemente ganz deutlich heraus. Insgesamt und im Nachhinein gesehen war dieses Album eine schwierige Geburt. Mit „Comalies“ hatten wir unseren internationalen Durchbruch, und wir kombinierten zum ersten Mal grafische Elemente mit unserer Musik. „Karmacode“ wird von vielen Leuten als das Album bezeichnet, das sehr US-amerikanisch klingt. Das stimmt in gewisser Weise, gleichzeitig ist dieses Album allerdings auch unser aggressivstes und kompliziertestes, denn wir haben mit teilweise 80 Spuren gearbeitet und diese überlagert, so dass genau das den Zuhörer sehr beansprucht.

Ein Element ist jedoch auf allen euren Alben zu hören, wenn du so möchtest, euer Trademark-Element, das Keyboard. Wie stellt ihr diese unverkennbare Harmonie zwischen den Gitarren und dem Keyboard her, die immer wieder diesen typischen LACUNA COIL-Sound erzeugt?

Es gibt kein Rezept oder eine Bauanleitung dafür, soetwas müssen wir auch ausprobieren. Wir wollen unseren Songs immer einen speziellen Sound verleihen, und sehr oft beginnt die Arbeit mit einer bestimmten Melodie, einer Vocal-Line oder einem Gitarren-Riff, und erst dann sehen wir, ob und wie alles zusammenpasst. Als wir „Karmacode“ einspielten, haben wir mit unheimlich vielen Spuren gearbeitet, mit Strings, mit verschiedenen Gitarren und sogar vielen unterschiedlichen Gesängen, so dass die Arbeit unangenehm kompliziert wurde. Mit dem neuen Album wollten wir daher sicherstellen, dass die Musik an erster Stelle kommt, und erst dann haben wir das Keyboard hinzugefügt oder uns dazu entschlossen, die Keys einfach einmal wegzulassen, damit jedes Instrument auch tatsächlich zu hören ist und nicht von Effekten überlagert wird. Wir sind also wieder ein Stückchen weiser geworden. (lacht) Wir haben uns diesmal auf die Songs an sich konzentriert.

In welcher Reihenfolge nehmt ihr die einzelnen Instrumente denn auf? Wird erst der Gesang aufgenommen, dann die Gitarren usw., oder entsteht das alles ganz spontan und erst am Ende zeigt sich dann, wie alles am besten zusammenpasst?

Das hängt ganz allein von dem Song ab, der aufgenommen werden soll. In der Regel schreiben wir neue Songs so, dass wir zunächst einen Teil aufnehmen und dann schauen, wie am Ende alles zusammenpasst und ob wir noch Keys hinzufügen oder weitere Elemente oder Effekte, um dem Song mehr Tiefe zu verleihen oder eine andere Eigenschaft, die zu ihm passen könnte. Wir hören uns dann mehrere Alternativen an und entscheiden gemeinsam, welche Idee am besten klingt. Dieser Prozess ist sehr langwierig aber letztendlich auch sehr effektiv, denn am Ende wissen wir, dass wir den Song letztendlich so hinbekommen haben, wie er uns am besten gefällt.

Werdet ihr weiterhin innerhalb des typischen LACUNA COIL-Sounds experimentieren, oder denkst du, dass ihr fürs Erste genug experimentiert habt?

Wir lieben es zu experimentieren. Aber Zeit ist begrenzt und nicht immer haben wir die Möglichkeit so vorzugehen, wie wir es diesmal konnten. Außerdem muss man sich irgendwann auch einmal auf eine Idee festlegen, sonst ist man unendlich damit beschäftigt, Songs neu aufzunehmen, zu verändern und dann noch einmal alles ganz anders aufzunehmen. Wir haben diesmal sehr viel Zeit gehabt um zu experimentieren, und diese Erfahrung wird uns für folgende Alben sicherlich von Nutzen sein.

Du hast am Anfang unseres Interviews erwähnt, dass ihr alle sehr unterschiedliche Musikrichtungen hört. Fühlst du dich persönlich eigentlich einem düsteren Musikstil näher, oder welche Art von Musik beeinflusst dich ganz besonders?

Wir hören das was uns gefällt. Genau. Ich kann mir MANOWAR genauso anhören wie Pop, Black Metal, Thrash, Volksmusik oder was auch immer. Als wir 2004 auf Tour waren, haben uns viele Bands aus dem MetalCore begleitet, und wir haben letztendlich auch Elemente daraus verwendet. Wir haben keine Angst, uns auch anderen Stilen zu öffnen. Wir sind offen für alles.

Fühlst du dich denn einem der neuen Songs ganz besonders verbunden?

Ich möchte dich nicht enttäuschen, aber zum ersten Mal kann ich mit ruhigem Gewissen behaupten, dass jeder der neuen Songs auf die ein oder andere Weise wichtig ist oder eine bedeutende Rolle für mich spielt: Einige der Songs sind sehr kraftvoll, andere sehr melodisch und in wirklich allen Songs finde ich bestimmte Elemente, die mir besonders am Herzen liegen. Diesmal hatten wir 20 neue Songideen, von denen wir 16 aufgenommen haben und 12 davon auf dem Album Verwendung fanden. Diese 12 Songs repräsentieren das, was LACUNA COIL heute ist, in der bestmöglichen Art und Weise. Jeder der neuen Songs hat dieses besondere Etwas.

Hast du zum Schluss noch etwas, das du unseren Lesern und euren Fans mitteilen möchtest?

Wir sind natürlich sehr gespannt darauf, wie „Shallow Life“ ganz allgemein ankommen wird und wir hoffen, dass das neue Album unsere Fans genau so begeistert, wie uns selbst. Wir sind wirklich sehr gespannt.

Ich danke dir für das Interview und wünsche euch viel Erfolg mit „Shallow Life“!

Vielen Dank.

Galerie mit 30 Bildern: Lacuna Coil - Rockharz Open Air 2023
09.09.2009

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