60 Jahre Vinyl
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Denk‘ ich an Vinyl…

60 Jahre Vinyl – das verdient einen Tusch. Was ich persönlich mit Vinyl verbinde, ist eine seltsame Faszination, obwohl ich genau genommen ein Kind der Generation CD bin. Zur gleichen Zeit wie die ‚Kompaktdiskette‘ entstanden, den anfänglich auf wackeligen Füssen stehenden und mit Argwohn beäugten Markteinstieg noch nicht mitbekommen (dank DDR), aber dann mit vollem Bewusstsein den Siegeszug des digitalen Tonträgers mit 12 Zentimetern Durchmesser erlebt. Trotzdem war mein allererster Tonträger, mit dem ich überhaupt in Kontakt kam, schwarz, groß, rund und für kleine Kinderhände einigermaßen schwer.

Woran ich mich aus diesen frühen Tagen ebenfalls erinnern kann, sind ein paar Eigenschaften, die ich dankenswerterweise bei den kleinen Scheibchen nicht mehr finde. Lagerfeuergeknister, Kratzer und überhaupt ein Medium, welches noch sorgsamer als der eigene Augapfel behandelt werden möchte. Vinyl gehört in Liebhaberhände, die behutsam und zärtlich mit ihm umgehen. Anfangs suggerierten auch die Booklets der meisten CDs aus den 80er Jahren eine ähnliche Empfindlichkeit, doch es sollte sich schnell zeigen, dass die Industrie eines ihrer größten Versprechen tatsächlich gehalten hatte: Gleichbleibende, oder genauer gesagt identische Klangqualität unabhängig vom Gebrauch. Wer seine Lieblingsschallplatte bereits zum 100. Mal abspielt, weiß genau, was das bedeutet.

Der Abnutzungsgrad ist ein echter Downer: 180g Vinyl wiegt mehr, als man denkt. Neben Staub- und Schmutzpartikeln ist die Schwerkraft sein größter Feind. Es beschädigt auf Dauer seine schöne Papp-Umhüllung, wird durch den Tonabnehmer abgenutzt, zerkratzt (egal, wie vorsichtig man ist). Während man aus CDs imposante Türme bauen kann (ob mit oder ohne Hülle), wissen Plattensammler, dass man nie mehr als 20 Vinyls übereinander stapeln sollte. Um eine CD zu zerstören braucht man viel Kraft, bei Vinyl reicht dazu weit weniger. Einmal zerkratztes Vinyl bleibt zerkratzt, selbst kleinste Haarkratzer nimmt der Plattenspieler übel. CDs kann man bis zu einem gewissen Grad noch abfräsen (weil CDs ja genau genommen Medium UND Träger sind, während Vinyl beides in einem ist). Will man Vinyl über Jahre im Bestzustand erhalten, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder, man lässt es ungenutzt und ungeöffnet im Plattenschrank stehen, oder man macht aus der Plattenpflege eine kleine Wissenschaft.

Und genau hier sind wir meiner Meinung nach an einem Punkt, der diese Faszination am schwarzen Gold ausmacht: CDs sind sehr robust, und reagieren weitaus weniger empfindlich, obgleich sie im Grunde die gleichen „Feinde“ wie Vinyl haben. Vinyl selbst aber erfordert echte Hingabe, Behutsamkeit und Vorsicht, sodass man nicht umhin kommt, eine ganz besondere, persönliche Beziehung dazu aufzubauen. Das ist einzigartig und kann man bei keinem anderen der so vielfältigen Tonträger beobachten.

Einzigartig ist Vinyl auch deshalb, weil es wie kein anderer Tonträger die Musikwelt bis heute (medienübergreifend!) beeinflusst. Single, Extended Play, Album – diese Formate verdanken wir ausschließlich Vinyl, auch wenn die große Mehrheit dieser Formate längst nicht mehr auf Vinyl erscheint. Und dann das sogenannte haptische Erlebnis: Man muss einfach nur mal ein Doppelvinyl-Album mit Gatefoldcover und dickem Textbuch in die Hand nehmen. Video-Enthusiasten konnten das bei Laserdiscs noch nachfühlen, doch ansonsten sind CDs nahezu unscheinbare Fliegengewichte, die man mit zwei Fingern halten kann.

Denk‘ ich an Vinyl, dann kommen mir viele Bilder und teils obskure Geschichten in den Sinn. Zum Beispiel THE KLF, die 1987 extra nach Schweden fuhren, um dort in einem Feld alle verbliebenen Exemplare ihres Albums „1987“ zu verbrennen. Es war das reinste Samplefest, was das englische Kultduo damals noch unter dem Namen THE JAMS abgefeiert hatte, doch vor allem ABBA fanden das gar nicht witzig. Kurze Zeit später wurde „1987“ mit vielen Leerstellen und Selbstbauanleitung wiederveröffentlicht. DJ SHADOW hätte in dieser Situation gleich einpacken können, besteht doch sein Sampling-Meisterwerk „Endtroducing…“ ausschließlich aus dem Klangfundus seiner mehr als 60.000 Platten umfassenden Sammlung.

Ich denke an den Krachpionier Boyd Rice, der damals in viele frühe Platten seiner Band NON extra Löcher bohrte, um durch diesen ‚multi-axis‘-Effekt ganz neue Töne zu erzeugen. Nicht zu vergessen, dass es diesen innovativen Platten auch vollkommen egal war, in welcher Geschwindigkeit sie abgespielt wurden. Auf CDs könnte man das nicht mal reproduzieren. Ich denke an technische Spielereien wie ‚locked grooves‘, parallele Tracks und ‚backward masking‘, zu denen es u.a. mit ‚pre-gap audio‘ CD-Pendants gibt.

 

60 Jahre Vinyl

 

Ich denke an Flexi-Discs und ‚picture-vinyl‘, wobei letzteres kein Vergleich zum heute nicht mehr gängigen Begriff „picture disc“ ist. Früher war es etwas ganz besonderes, wenn CDs mehrfarbige Offset/Siebdruck-Labels hatten. Vinyl hingegen begeistert auch heute noch mit Bildern, die sich über das gesamte Medium erstrecken; Vinyl in Marmor-Optik, transparent, phosphoreszierend, mit eingebrannten Laser-„Tattoos“ und sogar duftend. Es war und ist nach wie vor ein Rohstoff, der zum Experimentieren einlädt. Einen festen Platz in der Geschichte hat auch die „Han-O-Disc“ von 1978 mit flüssiger Farbfüllung – ein bemerkenswerter Effekt, der jedoch nie über den Prototypen hinauskam.

Ich denke an das für Sammler vielleicht spannendste Medium. Vinyl mit individuellen Markierungen, handgeschrieben oder eingekratzt, die jedem Exemplar etwas Eigenes, Persönliches verleiht, ebenso wie die eigenwilligen Formen sog. ’shape vinyls‘. Ob einfache Umrisse oder Sägezahn-Ränder – bei Vinyl gibt es keine Probleme mit Unwucht auf dem Plattenteller (als Vergleich sollte man mal eine Shape-CD in einem Auto-CD-Spieler benutzen…). Und ganz besonders wertvoll sind natürlich die Exemplare, die noch nicht aus der Form herausgeschnitten wurden.

Nummeriertes Vinyl, Erstveröffentlichungen, Promo-Releases, Testpressungen (die es in dieser Art bei CDs einfach nicht gibt)… Vinyl wird mit jedem weiteren Jahr zu einer Wertanlage, bei der seltene Exemplare heute schon fünfstellige Preise erreichen. Für das fünfte Exemplar des „White Albums“ wurden 2008 stattliche 19.200 Pfund bezahlt, und darf man aktuellen Schätzungen glauben, dann stammt das wertvollste Stück Vinyl heute von den SEX PISTOLS – vermutlich auch deshalb, weil es nie offiziell erschienen ist.

Totgesagte leben länger

Als man vor mehr als 100 Jahren begann, Musik aufzunehmen, sorgte man sich um Live-Musik, noch mehr, als selbst die Filme das „Sprechen“ lernten. Ein paar Jahrzehnte später sollte dann die Kassette den Tod der Schallplatte bedeuten. Diese erste Prophezeiung traf nicht ein, da wurde sie mit der Einführung der CD noch einmal wiederholt. Diesmal sollte Vinyl wirklich am Ende sein, massive Verkaufseinbrüche schienen einen Trend zu bestätigen, an dessen Ende das Verschwinden dieses geschichtsträchtigen Tonträgers stehen sollte.

Doch warum ist Vinyl selbst heute noch am Leben, aber die Kassette nicht mehr? Oder korrekter formuliert: Warum wird Vinyl heute noch hergestellt (in steigenden Zahlen!), während die letzten, hergestellten Kassetten bald begehrte Mangelware sein werden? Tatsächlich ist die Kassette wohl das unpraktischste Medium, man denke nur an das lästige Vor- und Zurückspulen, an Bandsalat, Bandriss und unglückliche Begegnungen mit Magnetfeldern.

Ein Medium kann nur ersetzt werden, wenn das neue Medium tatsächlich alle Eigenschaften und Funktionen des Vorgängers erfolgreich übernimmt und übertrifft. Spätestens durch die ersten beschreibbaren CDs konnte die Kassette komplett ersetzt werden, Vinyl hingegen bis heute nicht. Angeführt wird dabei gern ein technischer Aspekt, nämlich der direkte Zugriff, die direkte Tonabnahme im Wiedergabeprozess. Stichwort Scratching, Stichwort DJ-Kultur: Kein Caching, kein Buffering, alles live.

Bedeutender aber sind eben die ganzen Besonderheiten, die Vinyl in den Augen seiner Sammler und Liebhaber einen Status verleihen, den die CD in mehr als 30 Jahren nicht erreichen konnte. Und sollte sie eines Tages tatsächlich sterben (was ich für wahrscheinlich oder besser unausweichlich halte), dann wird Vinyl immer noch existieren. Der einzige, wirklich wahrscheinlich Todesstoß ist schlichte Ressourcenknappheit – wenn die Menschheit im Kampf um die letzten Öltropfen auch noch die einst besten Freunde abmurkst. Aber das werde ich glücklicherweise nicht mehr erleben, und danach interessiert meine Sammlung sowieso niemanden mehr.

Meine Plattenkiste

Auch wenn mich Vinyl fasziniert – für mich persönlich ist und bleibt es ein reines Sammlerobjekt im engsten Sinne. Mein Hauptmedium ist die CD, und alles, was nicht exklusiv vinyl-only veröffentlicht wird, landet in physischer, digitaler Form in meiner Sammlung. Der Hauptgrund ist audiophiler Natur, ohne dass ich hier die ewige, und im Grunde völlig sinnlose, da vollkommen subjektive, Diskussion über die Klangunterschiede CD vs. Vinyl anstoßen will.

Umso mehr schätze ich daher die kleinen, großen Juwelen, die sich zu den Silberscheibletten gesellen und deshalb auch nicht in ihrem Schatten stehen. Ich kaufe sie, weil eine Veröffentlichung in meinen Augen physisch existieren muss. Ich halte trotz aller Vorzüge von mp3 & Co. rein gar nichts von rein digitalen Veröffentlichungen, weil ich einfach etwas in der Hand haben muss. Und wenn das nicht in CD-Form möglich ist, dann eben auf Vinyl. Schön, dass es mittlerweile viele Vinylveröffentlichungen mit begleitenden mp3s gibt, auch wenn es da gerade bei älteren Werken noch sehr viel Nachholbedarf gibt. Aber das ist doch das Beste mich als CD-verwöhnten Hörer: Vinyl besitzen und es nicht benutzen müssen!

Mein größter Schatz ist das „Analord“-Set von APHEX TWIN. Ein edel aufgemachter Ordner in Lederoptik mit 12 mal 12-Zoll-Vinyl. Musikalisch aber genauso non-metallisch wie meine derzeitige Suchliste, u.a. Caustic Window, Björk, Bradley Strider, Bochum Welt, Black State Choir.

Und auch wenn sich meine Kollektion nur sehr langsam vergrößert – schön dass es Vinyl gibt.

 

60 Jahre Vinyl

 

Bastian Voigtländer


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11.09.2011

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