Turn Back Time To 1996
Folge 8: "Abducted" von Hypocrisy

Special

 

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Wenn die Kollegin Schmidt zur Zeitreise einlädt, dann kann man als alter Nostalgiker natürlich kaum widerstehen. Und 1996 war ja schließlich die Metal-Welt auch noch in Ordnung, oder? Nun ja, HYPOCRISY-Fans werden mir da wohl nicht so ganz zustimmen. Die Uralt-Anhänger hatten damals den Abgang von Gründungsmitglied Masse „Emperor Magus Caligula“ Broberg gerade so halbwegs verkraftet und Bandchef Peter Tägtgren als neuen Sänger akzeptiert, da wechselt  dieser doch tatsächlich nach nur einer Scheibe schon wieder recht deutlich den Gesangsstil, unglaublich. Nun saß man schon zunächst etwas ratlos im Freundeskreis und ließ „Abducted“ rotieren, bis sich irgendwann dann doch so ganz langsam der Gewöhnungseffekt einschlich. Was genau hatte sich der Meister da gewagt, was sorgte für so manche Diskussion unter den Anhängern? Im Prinzip (zumindest im Nachhinein betrachtet) nichts so dramatisches, er hatte lediglich die vormals eher tiefen Growls gegen höhere und giftigere Screams ausgetauscht. Wer mit den mittleren und neueren HPOCIRSY-Alben groß geworden ist, der kennt es gar nicht anders. Doch wir waren damals schon etwas irritiert. Und bereits auf dem darauf folgenden Meilenstein „The Final Chapter“ hatte Tägtgren ja die gewohnten Growls auch in seinen Gesangsstil wieder integriert.

Aber kann man einer Scheibe denn wirklich ernsthaft lange böse sein, die den Über-Mega-Hit „Roswell 47“ beinhaltet? Nicht wirklich, niemals. Über diesen Song braucht man auch nicht mal im Ansatz zu diskutieren, der ist ganz einfach von A bis Z perfekt, da sitzt jede einzelne Note. Und noch heute zählt dieses kleine Meisterwerk zu den besten Death-Metal-Hymnen überhaupt und hat seinen festen Platz in der Setlist von HYPOCRISY. Das unmittelbar folgende „Killing Art“ bietet dann genau jenen Übergang von der stampfenden Midtempo-Hymne zur melodischen Raserei, der seitdem urtypisch für diese Band ist. Hier nehmen die Jungs ganz gekonnt Anleihen bei ihrem eigenen Black-Metal-Nebenprojekt THE ABYSS und liefern gleich mal den nächsten Klassiker ab. Unendlich viele endgeile Melodien und massig gekonnte Tempowechsel, so prügelt man den Putz von den Wänden. Selten kamen HYPOCRISY in gerade mal knapp drei Minuten so auf den Punkt wie hier. „The Arrival Of The Demons (Part II)“ ist dann quasi die Fortführung des Outros von der Vorgänger-Scheibe „The Fourth Dimension“ und völlig überraschend wieder ein melodischer zäher Stampfer. Tägtgren deutet hier auch bereits dezent den Klargesang an, der auf dieser Scheibe später noch ausgeprägter zum Zuge kommen sollte. Der fiese kleine Brecher „Buried“ legt dann härtetechnisch ein paar Grad zu, bietet aber erneut mal wieder einen hochmelodischen und megaeingängigen Refrain. Noch eine Spur härter und schmutziger wird’s dann beim Titeltrack „Abducted“, mit dem HYPOCRISY ein Stück weit zurück in die eigene Vergangenheit reisen. Folgt nun wieder erwartungsgemäß der nächste Midtempo-Song? Und ob! Auf „Paradox“ versucht sich der gute Peter wieder an düsterem Cleangesang, trifft aber hier noch nicht jeden Ton punktgenau. Das sollte ihm in den folgenden Jahren vor allem bei PAIN dann wesentlich besser gelingen.

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Bei „Point Of No Return“ zieht das Tempo dann wieder deutlich an. Dennoch ist dieser Song auf „Abducted“ eher einer aus der Kategorie Füller, wenn auch auf ziemlich hohem Niveau. Ähnliches gilt auch für das anschließende „When The Candle Fades“. Aber bitte, liebe Leute, auch eine Kapelle wie HYPOCRISY kann kaum eine ganze Scheibe auf allerhöchstem Niveau musizieren. Doch dieses Level wird mit „Carved Up“ dann bereits wieder spielerisch erreicht. Hier schnellen die Regler wieder in die Höhe und die Band bietet einmal mehr Melodie und Härte in perfekter Harmonie. Das atmosphärische Zwischenspiel „Reflections“ wirkt dann wie aus einem Science-Fiction-Streifen entnommen und läutet die letzten beiden Runden ein. Und damit kommen wir auch zum ungewöhnlichsten Teil dieser Scheibe. Denn Death-Metal-Balladen an sich sind ja schon eine ziemliche Seltenheit. Dass man aber ein Album mit gleich zweien dieser Art beendet, gibt es so meiner Meinung nach kein zweites Mal. Wobei „Slippin‘ Away“, die erste von den beiden, der deutlich stärkere Song ist. HYPOCRISY liefern hier herrliche Melodien und Meister Tägtgren singt bzw. flüstert sich durch diese Ballade. Das passt perfekt zu dieser Nummer, Growls hätten hier ganz sicher nur gestört. Beim zweiten und damit abschließenden Kuschelsong „Drained“ geht das Konzept dann aber nicht ganz so gut auf, der kann von der Qualität her einfach nicht wirklich mit seinem Vorgänger mithalten. Außerdem bleibt natürlich die Frage, ob man eine Scheibe wirklich mit zwei solchen Songs beschließen sollte, ist für die Dramaturgie sicherlich nicht die geschickteste Lösung. Aber sei es drum, wir Fans haben ja immer leicht reden…

„Abducted“ ist im Schaffenswerk von HYPOCRISY nicht mal die allerstärkste Platte, aber dennoch würden vermutlich gut 95% der (melodischen) Death Metal Bands dafür töten. Das zeigt, welches unglaublich hohe Niveau diese Band über all die Jahre etabliert hat. Man gewöhnt sich ja doch viel zu schnell an dauerhafte Spitzenleistungen und weiß diese dann kaum noch gebührend zu würdigen.

Aber, lieber Peter, auch wenn es natürlich mit PAIN und LINDEMANN viel mehr Geld zu verdienen gibt, wogegen ja auch überhaupt nichts einzuwenden ist, bitte raff dich auf und spendiere uns allen endlich wieder eine neue HYPOCRISY-Scheibe. Denn „End Of Disclosure“ ist ja nun auch schon wieder drei Jahre alt…

Galerie mit 14 Bildern: Hypocrisy - Party.San Metal Open Air 2023

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01.10.2016

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