Alcest
"Ich bin großer Michael Jackson-Fan" – Interview zu "Kodama"

Interview

Shelter“ ade, „Kodama“ olé! Mit dem Erscheinen des fünften ALCEST-Studioalbums hat Mastermind Neige sein keifendes Guturalorgan wiedergefunden und zaubert damit gleichermaßen Blackgaze- wie auch Post-Rock-Fans ein grimmiges Lächeln aufs Gesicht. Warum er von neuartigen Wikipedia-Genredefinitionen und politischen Botschaften im Metal allerdings ziemlich genervt ist, erläuterte uns der französische Traumwandler im Interview auf Tour – ganz in Ruhe, ohne schwarzmetallisches Rumgeschreie.

Hallo Neige! Vor ziemlich genau drei Jahren hast du angekündigt, mit ALCEST jegliche Metal-Elemente abschütteln zu wollen. Wirklich lange hatte das aber offensichtlich nicht Bestand.

Wir sind schon ziemlich happy mit „Shelter„. Nach „Les Voyages De L’Âme“ konnten wir einfach nicht schon wieder ein Metal-Album aufnehmen. Also mussten wir dieses Album einfach machen. Ich wollte einigen meiner Lieblingsbands wie SLOWDIVE und COCTEAU TWINS damit auch einfach einmal angemessen Tribut zollen. Trotzdem glaube ich, dass „Shelter“ im Vergleich zu anderen Vorgängern kein wirklich persönliches Album war. Der Kontrast hat gefehlt. Den wollten wir mit „Kodama“ wieder aufnehmen. Trotzdem würde ich es nicht als Metal-Album bezeichnen. Es ist heavy und hat durchaus seine Momente. Aber ich denke, der Sound und die Herangehensweise haben überhaupt nichts mit Metal zu tun. Ich finde, es klingt eher wie frühe MOGWAI, wie ein Post-Rock-Album, das noch diesen wirklich rauen Sound hat.

Die Musik, die ihr auf „Écailles De Lune“ und „Les Voyages De L’Âme“ gespielt habt, wird inzwischen gerne als „Blackgaze“ kategorisiert. Auf euch folgte in den letzten Jahren eine ordentliche Bandwelle. Wurde dir diese Bewegung einfach irgendwann zu groß, sodass du vielleicht etwas übereilt die Notbremse gezogen hast?

Ich mag es generell nicht, wenn meine Musik mit irgendeinem Label versehen wird. Blackgaze, Post-Metal – das bedeutet doch alles nichts. Viele Blackgaze-Bands klingen wesentlich härter als wir, aber von Shoegaze höre ich darin kaum etwas. Unsere Einflüsse reichen von Folk über Klassik und Shoegaze bis Pop. Nicht einfach nur Black Metal und Post-Rock. Wenn die Leute uns als Blackgaze-Band darstellen wollen, meinetwegen. Natürlich ist es eine Ehre, als Vorreiter angesehen zu werden.

Aber das war nicht der Grund für den radikalen Schritt mit „Shelter“?

Nicht unbedingt, eher ging es mir darum, dass wir so oft mit Black Metal assoziiert wurden. Und das hat mich damals wirklich gestört. Das sind wir nicht. Ich mag Black Metal, manchmal höre ich immer noch die alten Sachen, aber ich finde nicht, dass wir irgendetwas mit dieser Musik zu tun haben. Das Dunkle und das Böse – das hat nichts mit ALCEST zu tun.

Aber künftig werdet ihr euch weiterhin auf den kontrastreicheren Stil stützen? Oder kommt da wieder etwas gänzlich anderes?

Früher habe ich vieles genau geplant. Ich will keinen Metal mehr spielen, ich will doch wieder screamen … damit ist jetzt Schluss. Uns steht alles offen und das fühlt sich ziemlich gut an. Du gehst in deinem Leben durch so viele verschiedene Phasen. Die Musik folgt dir, sie ist dein bester Kumpel – und verändert sich mit dir. Wenn es dir also nicht nur darum geht, CDs zu verkaufen, sondern wenn du wirkliche Kunst erschaffen willst, dann kannst du nichts vorausplanen. Wir sind nicht MOTÖRHEAD und wir sind nicht CANNIBAL CORPSE. Wir werden niemals dasselbe Album zweimal aufnehmen.

„Ich hasse organisierte Religion“

Kodama ist ein Konzeptalbum über die Konfrontation der menschlichen Welt und der Natur. Frühere Alben handelten oft von deinen eigenen Traumwelten. Wo endet die eine, wo beginnt die andere Welt?

Gute Frage. Es klingt zunächst so unterschiedlich, aber eigentlich ist es das gar nicht. In beiden Fällen soll dich unsere Musik irgendwo anders hintragen. Wenn jemand aus der Stadt unsere Musik hört, dann soll es ihm ein Gefühl der Natur vermitteln. Es geht darum, der Realität zu entfliehen. Wir leben in einer ziemlich schwierigen Welt, viele Leute sind den Alltag leid. Und ich denke, viele Menschen sind auf der Suche nach alten Verbindungen, egal ob in der Natur oder der spirituellen Welt.

Wie auch Religion?

Nein. Religion und Spiritualität sind komplett verschiedene Dinge. Ich bin absolut gegen jede Religion. Was mich aber nicht davon abhält, an irgendetwas zu glauben. Ich hasse bloß organisierte Religion. Und ich denke, bei ALCEST geht es wirklich rein ums Entfliehen. Nicht weil man Angst hat oder sich der Realität nicht stellen kann. Einfach nur weil es etwas ziemlich Natürliches ist.

So wie der Song „Je Suis D’ailleurs“ übersetzt eben „Ich bin von anderswo“ bedeutet.

Genau das meine ich.

Aber stoßen diese beiden Welten nicht auch einmal zusammen? Kommt man beispielsweise nicht in einen komplett anderen Modus, wenn man wochenlang auf Tour ist?

Ja, absolut. Es ist schwierig für mich, die nüchterne Realität mit meiner Persönlichkeit zu vereinen. Das kann manchmal eine ziemlich obskure Sache sein – und ich denke, so geht es uns allen manchmal. Wenn auch nur in kleinen Momenten. Wenn du zum Beispiel nachts in den Sternenhimmel guckst und dir klar wird, was für eine kleine Welt es doch eigentlich ist. Da kommt die spirituelle Seite in einem hervor.

Und wenn du Abend für Abend auf die Bühne steigst und das Publikum dir gegenüber sogar eine gewisse Erwartungshaltung hat – wie einfach ist es dann, dieses Feeling wieder abzurufen?

Unterschiedlich, manchmal ist es tatsächlich schwer, aber meistens geht es ganz gut. Zu Hause arbeite ich täglich in der Natur und hier bin ich zumindest froh, aus dem Tourbus im Vorbeifahren ein bisschen Landschaft zu sehen. Aber wenn ich neue Musik schreibe, dann muss ich mich von allen anderen Impulsen lossagen können.

Es hieß auch, dass jüngste Tragödien der realen Welt ihren Einfluss auf „Kodama“ hatten.

Das ist die etwas bodenständigere Seite des Albums. Ich lebe selbst in Paris, nur wenige Minuten vom Ort der Terroranschläge im November entfernt. Ich habe selbst im Bataclan gespielt und ich habe Bekannte, die ihre Freunde dort verloren haben. Auch wenn ich meine Traumwelten und die Musik habe, manchmal wirst du unverhofft in die Realität zurückbefördert. Und ich war wirklich fertig. Dieser Tag hat etwas in mir zerbrochen. Wenn du all diese Bilder im Fernsehen siehst, dann ist das schon wirklich schlimm. Aber es nimmt dich noch einmal ganz anders mit, wenn es direkt um die Ecke passiert. Für ein paar Tage hat es sich angefühlt, als sei Paris im Kriegszustand. Und ich denke, das alles hat „Kodama“ noch ein wenig düsterer gestimmt. Es war schon alles komponiert, aber durch einige letzte Akzente im Sound haben wir die Stimmung noch einmal etwas gedrückt. Gerade im letzten Song („Onyx“).

„ALCEST hat nichts mit Rassismus und Hass zu tun“

Du warst lange auch in anderen Bands unterwegs. Inzwischen haben sich aber sowohl OLD SILVER KEY als auch AMESOEURS aufgelöst und auch bei LANTLÔS bist du nicht mehr aktiv. Genügt dir ALCEST inzwischen als kreativer Output?

Als Komponist habe ich mit ALCEST alles, was ich brauche. Aber ich liebe es, in Bands zu spielen, ohne Verantwortung zu haben – das ist wie Urlaub für mich. Ich bin sehr froh, wenn mir andere da etwas was vorgeben. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel die Drums für SYLVAINE aufgenommen. Trotzdem wäre ich wirklich froh, wenn die Leute mich nicht dauernd in die Kategorie „Post-Metal“ oder „Blackgaze“ einordnen würden. Da gibt es so viel Passenderes. New Wave oder Post-Punk zum Beispiel.

Du warst außerdem Teil der offen nationalistisch auftretenden Band PESTE NOIRE, hast dich aber inzwischen mehrfach von rassistischen und fremdenfeindlichen Inhalten distanziert. Die personellen Überschneidungen zwischen ALCEST und PESTE NOIRE sind aber dennoch nicht von der Hand zu weisen. Hältst du das Propagieren derartiger Ideologien für sinnvoll?

Das hat uns in der Regel keine Probleme bereitet. Jeder, der sich auch nur ein bisschen mit ALCEST beschäftigt, weiß, dass wir nichts mit Rassismus und Hass zu tun haben. Es geht um Respekt, Liebe und Spiritualität. Weißt du, damals war ich ein ahnungsloser Teenager und hatte mit Politik nichts am Hut. Mir ging es nur um die Musik und die hat mir gefallen. Ich wollte dabei sein und habe mich nicht um die politische Seite gekümmern. Aber ich schätze, das war wohl ein Fehler. Wenn du so eine kontroverse Band hast, musst du damit rechnen, dass du damit auch jemanden verärgerst. Ich kann dir auch nicht mal genau sagen, welche Ansichten die Band hat. Ich will einfach nur nicht mit Hass assoziiert werden.

Aber du pflegst doch trotzdem noch Kontakt mit einigen Mitgliedern?

Audrey (Sylvain, kürzlich bei PESTE NOIRE ausgestiegen) und ich haben uns im Juli beim Prophecy Fest getroffen – das erste Mal in zehn Jahren. Und das war cool, wir haben ein wenig gequatscht, aber nein, mehr nicht. Ich möchte nicht in diesen Kreis hineinrutschen.

[Anm. d. R.: Obwohl Neige angibt, die beiden Musiker hätten sich seit 2006 nicht mehr gesehen, spielte er in dieser Zeit gemeinsam mit Audrey Sylvain u.a. auf „Folkfuck Folie“ (PESTE NOIRE, 2007) und „Amesoeurs“ (AMESOEURS, 2009). Zudem hat Sylvain einen Gastauftritt auf ALCESTs Debütalbum „Souvenirs D’un Autre Monde“ (2007).]

Trotzdem: Hältst du es für sinnvoll, dass die Band ihre Musik nutzt, um derartige Inhalte zu propagieren?

Sie sollen machen, was sie wollen. Ich halte mich daraus. Ich für meinen Teil möchte Musik und Politik nicht vermischt wissen. Die Musik, die ich privat höre, ist nicht politisch.

Würdest du denn mit Bands auf Tour gehen, die Musik und Politik vermischen?

Ja, ich denke schon. Wenn die Message nicht auf Hass basiert, warum nicht? Ich bin nicht hier, um jemanden zu verurteilen. Ich mag auch ein paar RAGE AGAINST THE MACHINE-Songs und trotzdem muss ich deren Texten ja keine Beachtung schenken.

Würdest du musikalisch jemals etwas völlig anderes machen? Oder ist ALCEST als Marke schon zu sehr an einen bestimmten Stil gekoppelt?

Etwas radikal anderes würde ich nicht unter dem Banner ALCEST machen. Man muss schon vorsichtig sein. Ich glaube, mit „Shelter“ haben wir unsere Grenzen gut ausgelotet. Aber man sollte den Bogen nicht überspannen. Wenn ich noch weitergehen würde, würde ich es unter einem anderen Namen machen. Aber in der Zukunft wird es trotzdem noch einige Experimente geben.

Würdest du das „Shelter“-Experiment heute noch einmal so wiederholen?

Ich denke schon. Es ist immer gut, ein paar besondere Alben in der Diskografie zu haben. Darum habe ich zum Beispiel auch großen Respekt vor DAVID BOWIE. Alle seine Alben waren verschieden – das macht einen wahren Künstler aus.

Wessen Tod hat dich denn schlimmer getroffen, Lemmys oder Bowies?

Weißt du, Lemmy war das letzte wirkliche Symbol des Rock ’n‘ Roll. Niemand wird diese Rolle je wieder einnehmen können. Und das ist traurig. Ich meine, ich bin kein Fan. Ich mag die Musik, wenn ich betrunken in einer Bar sitze. Aber ich kann die Passion MOTÖRHEADs durchaus nachvollziehen. Ich glaube, Lemmy war eher repräsentativer Natur und Bowie war das musikalische Genie, das seiner Zeit voraus war. PRINCE‘ Tod hat mich auch echt schockiert, ich mag viele seiner Sachen. Er war so verrückt, so sehr mit seiner Musik verbunden. Es ist halt immer schade, wenn so talentierte Leute aus so dummen Gründen sterben müssen. Genau wie damals bei MICHAEL JACKSON. Ich bin großer Fan, das hat mich auch wirklich traurig gemacht.

Mittlerweile hast du ja auch schon die fünfte ALCEST-Platte draußen. Fühlst du dich schon in der Lage, deine Studioalben vom besten zum schlechtesten zu ranken?

Puh, ich kann dir auf jeden Fall sagen, dass „Souvenirs D’un Autre Monde“, „Écailles De Lune“ und „Kodama“ meine Lieblinge sind. Ich bereue allerdings ein paar Dinge an „Les Voyages De L’Âme“, gerade beim Sound. Es ist irgendwie zu clean. Es hätte eines unserer besten Alben werden können, wenn wir nur ein paar Dinge anders gemacht hätten. Aber was geschehen ist, ist geschehen.

Galerie mit 12 Bildern: Alcest - Soulcrusher Festival 2023
07.11.2016

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